Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Mosaik Torcello - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Angel_Torcello_Louvre_OA6460.jpg

Steinchen auf Steinchen

Die Menschen suchen nach einem Sinn des Lebens, oder nach dem, was sie darunter verstehen. Es ist sehr unterschiedlich, was sie dafür in die Wege leiten. Einige meinen, sie müssten Kinder bekommen, um ihrem Leben Sinn zu geben, und dann sind sie traurig, wenn die Kinder, einmal erwachsen geworden, ihr eigenes Leben leben - und ihren eigenen Sinn suchen. Andere meinen, sie müssten Großes vollbringen, Heldentaten, Kriege und Siege, Erfindungen, Gebäude - kurz, etwas hinterlassen, was sie unvergesslich macht. "Unsterblich" nennen sie es. Und sie werden nie erfahren, wie schnell sie dann doch vergessen werden. Oder wieviel Schaden sie anrichten für ihre Ziele.

Ich sehe den "Sinn" des Lebens ganz anders, aber dazu muss ich etwas ausholen. Vor Jahren war ich in der Basilika Santa Maria Assunta auf Torcello, einer Insel in der Lagune von Venedig. Ein wohl zwölf Meter hohes Mosaik bedeckt die innere Westwand der Kirche über dem Hauptportal, eine Darstellung des Jüngsten Gerichts in vielen kleinen Szenen, mit Sünden und Tugenden, Himmelslohn und Höllenstrafen, eine Mahnung an die Gläubigen beim Verlassen der Kirche, damit sie sich bei der Rückkehr in den Alltag an das Ende erinnern, das alle Menschen erwartet. Die religiöse Unterweisung für die Menschen des Mittelalters. Ein überwältigender Anblick, auch heute noch. Ungezählte Steinchen wurden hier im 12. Jahrhundert mit unendlicher Geduld und über sehr viele Jahre hinweg zusammengefügt. Mit etwas Fantasie kann man sich das hohe Arbeitsgerüst der Mosaikkünstler vor dieser Wand vorstellen, und mit noch etwas mehr Fantasie kann man sich vergegenwärtigen, wie mit Geduld und Sachverstand Steinchen neben Steinchen gelegt wurde, oft genug, ohne die gesamte Szene auf einmal in den Blick nehmen zu können. Generationen von Künstlern waren hier beteiligt, und viele von ihnen konnten gewiss sein, dass sie das fertige Mosaik zu ihren Lebzeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen würden. So etwa erzählte es unsere Gästeführerin.

"Muss das nicht frustrierend gewesen sein? Jahrelang zu arbeiten und nie das Endergebnis sehen zu können?" Solche und ähnliche Fragen waren in unserer Gruppe zu hören.

Ich weiß nicht mehr, was die Gästeführerin darauf geantwortet hat, aber für mich ist diese Mosaikwand daraufhin ein Sinnbild des Lebens geworden. Du musst kein Endergebnis deines Lebens vorweisen, denke ich mir seitdem, du kannst es vermutlich nicht einmal. Aber du musst eine jede Arbeit, die du übernimmst, als eines deiner Mosaiksteinchen betrachten, als deinen Anteil an dem, was die Gemeinschaft der Menschen zustande bringt. Leg deine Steinchen so gut du kannst, und freu dich, deinen Anteil geleistet zu haben. Und wenn du einmal einen Fehler machst: Es kommen ja Generationen nach dir, die ihn korrigieren können, denn auch sie haben ihren Anteil am Gesamtwerk. Das Leben ist ein ewiges Mosaiklegen, und wenn du deine Steinchen, deine vergleichsweise wenigen Steinchen, mit Bedacht, Sorgfalt und Kunstfertigkeit gelegt hast, dann hast du gut gelebt, dann hatte dein Leben seinen Sinn.



© Brigitte Hutt 2023

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