Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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wildes Holz

Der Aufmarsch der Vorsilben

Eine (nicht ganz ernst gemeinte) Sprachbetrachtung


Das Deutsche ist nicht nur eine Sprache der Silben, es ist eine Sprache der Vor(!)silben. Mehr noch: eine vorsilbenverliebte Sprache. Betrachten wir das etwas genauer.

Es beginnt im Alltag: Kochen ist out, abkochen ist angesagt. Wird man abgebrüht, wenn man abkocht? Rühren ist out, aufrühren ist dran. Aufruhr beginnt in der Küche.

Bei Wahlen geben wir niemandem unsere Stimme, nein, wir geben sie ab. Und was passiert dann mit ihr? Regierungen werden nicht nur gestraft, sie werden abgestraft. Heißt das dann bald "Kopf ab"?

Aber auch das Leben als Ganzes wird nicht geschont, ja, es bleibt nicht ver-schont, und daran hat die hier schon mehrfach genutzte Vorsilbe VER ihren eklatanten An-teil.

Wir sterben nicht mehr: Wir versterben. Verleben wir auch?

Wir lieben eher weniger, aber wir verlieben uns. Verhassen wir auch?

Verwandte sind - ja, was? Winden sie sich, wandern sie, wenden sie (oder wir) uns ab?

Geben ist gut, vergeben ist - zumindest schwierig.

Was ist - in Zeiten der Migration und der dadurch bedingten Deutschkurse eine wichtige Frage - die Systematik?

VER ist gewöhnlich eine Vorsilbe, die Falsches bzw. Negatives andeutet: ver-laufen, ver-legen, ver-wechseln, ver-achten, ver-lieren - doch halt: was ist lieren?

Versprechen? Vererben? Das ist schon eine Menge Stoff zum Philosophieren, man muss bereits aufpassen, sich darin nicht zu ver-rennen.

Teilen ist gut, beim Verteilen bleibt gewöhnlich nicht viel übrig.

Wer sich nach Verbotenem reckt, der verreckt.

Veredeln macht aus Unedlem Pseudo-Edles.

Ver-reisen lässt auf ein schlechtes Navigationsgerät schließen - oder?

In diesem Sinn ist ver-lieben ein falscher, ein negativer Weg der Liebe - hoffen wir für alle Verliebten, dass die rechte Liebe noch kommt.

Dass Ver-dünnen negativ ist, bezeugt das allgemeine Misstrauen gegen homöopathische Potenzen.

Brisant wird es beim Ver-handeln. Ist Handel an sich schon ein Gewerbe (Achtung: Da steckt werben drin) mit Schlichen, so weiß man beim Verhandeln sogleich, dass man chancenlos ist. Es sei denn, man ist ausreichend ge-witzt, hat also mehr Witz als nur Witz.

Ernst wird es beim Verkehr. Nein, nicht (nur) bei dem, an den Sie, lieber Leser, liebe Leserin jetzt womöglich denken, ich spreche von Fortbewegung (warum nicht schlicht von Bewegung? Darüber dürfen Sie selbst nachdenken).

Verkehr ist die Grundlage einer Lage, in der wir uns ver(!)fahren.

Wenn wir fahren, könnte es noch Zweck und Ziel haben, aber dann müsste das im "Kehr" geschehen, nicht im Ver-kehr, um Zweck und Ziel sprachlich positiv auszudrücken. Oder an der "Kehre"? Aber gerade eine solche ver(!)leitet ja zum Ver-fahren! Was dagegen leitet zum Fahren? Die Kehrtwende, also quasi die Doppelkehre (kehren und wenden, mathematisch-logisch betrachtet eine doppelte Verneinung oder eine 2x 180-Grad-Kurve - rechnen Sie selbst nach), die zu guter Letzt doch in die ursprüngliche Richtung führt?

Ich fühle mich er(!)schöpft, kann keine weiteren Gedanken schöpfen. (Ver)suchen wir einmal, die Richtung zu halten, geradlinig zu sprechen und zu schreiben. Ohne ver-sprechen oder ver-schreiben. (Ver)suchen wir einmal, sparsam zu sein in punkto Vorsilben. Begnügen wir uns mit Silben. Sorgen wir mit einer geraderen Sprache dafür, ja, stehen wir dazu, ver(!)standen zu werden, denn das ist erstaunlicherweise nichts Negatives.

Nehmen wir uns vor, zu leben, zu lieben, zu suchen, zu geben - denn dabei ver(!)geben wir uns (und anderen) nichts.


Ein besonderer Dank an M. B. für ein paar beigesteuerte Wörter!

© Brigitte Hutt September 2019


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