Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Blühende Rose

Spur des Lebens

Anne war verwirrt. Das Leben wurde ständig verwirrender, fand sie. Allein schon all die neuen Wörter, wo es doch auch alte gab. Immer musste man sich neu orientieren. Und wo war jetzt ihr Schlüsselbund?

Sie zog alle Schubladen auf, sortierte ein paar Dinge um, schloss sie wieder.

"Annchen, kommst du?", rief Kurt von unten.

Seufzend nahm sie ihre Strickjacke und ging hinunter, wo Kurt im Flur stand.

"Ich wünschte, du würdest mir sagen, wohin wir gehen", meinte sie auf der letzten Treppenstufe. Er griff nach ihrer Hand, entzog ihr sanft die Strickjacke und hielt ihr die Kostümjacke auf.

"Zu Erichs Geburtstag", sagte er, während sie in die Jackenärmel schlüpfte.

Anne hielt erschrocken inne. "Aber wir haben doch gar kein Geschenk!"

Kurt wies auf die festlich verpackte Schachtel, die auf dem Garderobentischchen wartete. "Alles vorbereitet, Annchen."

Anne seufzte noch einmal, griff nach ihrer Handtasche, hob den Schlüsselbund vom Haken und ließ ihn hineinfallen. Kurt schaute ihr geduldig zu und hielt ihr dann die Haustür auf.

"Habe ich die Blumen gegossen?", fragte sie nachdenklich.

"Heute Morgen", antwortete er und schob sie zur Tür hinaus. Nachdem Frau und Geschenk sicher im Auto verstaut waren, nahm er hinter dem Lenkrad Platz. Anne öffnete die Beifahrertür.

"Was ist denn?", fragte Kurt.

"Mein Schlüssel, ich habe meinen Schlüssel vergessen!"

"Nein, Liebes, den hast du in die Handtasche getan. Schau nach."

Er griff über sie hinweg und schloss die Beifahrertür wieder. Vorsichtshalber ließ er die Zentralverriegelung einrasten. Ein prüfender Blick zeigte ihm, dass ihr Sicherheitsgurt geschlossen war. Dann startete er den Wagen.

"Wohin fahren wir noch mal?", fragte Anne mit Stirnrunzeln.

"Zu Erichs Geburtstag."

"Ach ja." Sie lachte verlegen. "Er wird ja 70."

"Genau."

"Und Emmy wird sicher auch da sein."

"Vermute ich. Zugesagt hat sie."

Anne schwieg und lächelte.

Vor Erichs Haus angekommen, stiegen sie aus. Wie immer bewunderte Anne erst einmal die Rosen im Vorgarten. Dann fragte sie: "Kurt, habe ich die Blumen gegossen?"

"Aber ja. Heute Morgen." Er schob sie zur Haustür.

Die meisten Gäste waren schon da, und man begrüßte einander mit viel Hallo. Emmy, Annes Freundin seit Schulzeiten, zog diese bald auf das kleine blaue Sofa in der Ecke und tauschte mit ihr Erinnerungen aus. Immer wieder kicherten sie wie die Schulmädchen.

Anne lebte sichtlich auf, bemerkte Kurt, wenn er zu ihr hinübersah. Wie gut ihr das tat, wie gut Emmy ihr tat. Er entspannte sich und widmete sich dem Gespräch mit den Freunden.

Irgendwann kam Emmy zu dem Terrassentisch, an dem Kurt mit dem Jubilar saß, und fragte: "Sag mal, die Anne ist jetzt schon so lange auf der Toilette - sollten wir vielleicht mal nachsehen?"

Kurt sprang auf, blieb aber gelassen und tätschelte Emmys Arm. "Schon gut, du weißt, manchmal geht das … nicht so, wie man möchte - ich schaue mal nach ihr."

Er ging zur Gästetoilette, die aber leer war. Etwas ratlos schaute er sich um, als er über sich Schritte auf der Treppe vernahm.

"Ach, Kurt, da bist du ja. Es ist so verwirrend. Das Bad ist einfach auf der falschen Seite. Ich muss mich immer erst orientieren."

"Aber jetzt hast du alles gefunden?"

"Ja. Aber weißt du, wo mein Schlüsselbund ist?"

"In deiner Handtasche, Annchen. Und die steht unten neben dem blauen Sofa."

"Ach ja." Anne hakte sich erleichtert bei ihm ein, um zu den anderen zurückzukehren. Beide setzten sich zum Gastgeber auf die Terrasse.

"Eure Rosen", sagte Anne zu Erich, "die sind die allerschönsten, die ich kenne."

Erich bedankte sich für das Kompliment und bot noch eine Runde Getränke an. Kurt nahm Kräuterlikör für sich und Anne, die aber abwehrte: "Oh nein, so was trinke ich doch nicht!"

Erich schüttelte verwundert den Kopf. "Aber das ist doch Waldeslust, das ist doch immer dein Lieblingslikör gewesen!"

Kurt nahm Annes Hand. "Geschmack kann sich ändern, weißt du!", sagte er halb zu Erich, halb zu Anne. Da kam Barbara, Erichs Frau, aus dem Wohnzimmer, und Anne fragte sie: "Könnte ich vielleicht einen Tee haben?"

"Sicher, gleich", antwortete Barbara etwas zerstreut und beugte sich zu ihrem Mann. Leise fragte sie: "Hast du eine Ahnung, wieso die Gießkanne auf unserem Schlafzimmerteppich steht?"

Kurt hörte den Satz nur in Bruchstücken, konnte sich den Rest aber zusammenreimen. Er leerte sein Likörglas und stand auf. "Wisst ihr was, es ist schon so spät, ich glaube, den Tee trinken wir lieber daheim. Was, Anne?"

"Ja, sicher." Anne stand gehorsam auf. "Und ich muss ja auch noch die Blumen gießen."

Während Anne Emmy und Barbara zum Abschied umarmte, holte Kurt ihre Handtasche und drückte sie ihr in die Hand. Winkend gingen sie zum Auto. Anne hatte den Türgriff schon in der Hand, als sie ihn wieder losließ und sich zurückdrehte zum Haus.

"Was ist, Liebes?"

"Mein Schlüssel, ich habe meinen Schlüssel vergessen!"

"Annchen, schau in deiner Tasche nach."

Anne öffnete ihre Handtasche und schaute ein paar Augenblicke stirnrunzelnd hinein. Nacheinander hob sie Geldbörse, Taschentuch und Schlüssel heraus und ließ sie wieder hineinfallen.

"Können wir dann fahren?", fragte Kurt behutsam.

"Ja, ja, sicher. Ich muss ja auch noch die Blumen gießen."

Anne stieg ins Auto und legte den Sicherheitsgurt an.



© Brigitte Hutt 2017

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