Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Verlorene Socken

Das Sockenparadies

"Marei, wirklich! Schon wieder müssen wir Socken kaufen gehen. Schau dir nur dieses Loch in der Ferse an! Wie machst du das nur immer?"

"Aber Mama, ich mache gar nichts. Ehrlich! Ich laufe nur herum."

"Und wenn du genug herumgelaufen bist, liegen fünf Socken unter deinem Bett, zwei davon mit Löchern, und drei, die einander nicht im Geringsten ähnlich sehen. Und wenn dann doch mal ein richtiges Paar zu finden ist, geht eine Socke davon in der Waschmaschine verloren. Ach, Kind."

"Aber Mama ..."

"Na, ist schon gut, Marei. Vermutlich geht es anderen Kindern auch nicht anders."

"Und anderen Socken?"

"Anderen Socken?" Die Mutter lachte. "Also, ja, mitunter geht auch von meinen eine in der Waschmaschine verloren."

"Siehst du!"

Marei hüpfte triumphierend in den Garten.

Die Mutter rief ihr noch nach: "Aber ich versuche wenigstens, Ordnung zu halten!"

Doch Marei antwortete nicht mehr. Draußen wartete bereits Conny, ihr treuer Begleiter. Ein wenig Schäferhund, ein wenig Rottweiler, dazu jede Menge Rätselhaftes.

"Bei dir ist auch keine Ordnung, Conny", sagte Marei und drückte sich an den Hund. "Aber dir nimmt es keiner übel. Komm, wir gehen in den Wald."

Das ließ sich Conny nicht zweimal sagen. Sie liefen, sprangen, spielten mit Stöckchen, hatten ihren Spaß. Dabei kamen sie tiefer in den Wald als je zuvor.

"Schau nur, Conny, da ist ein Tor! Das kannte ich ja gar nicht!"

Marei fuhr mit dem Finger die Muster in den hölzernen Torflügeln nach.

"Sieht aus wie … wie … Füße? Oder Flügel? Wohin das wohl führt? Ob man da …"

Sie drückte vorsichtig gegen einen Torflügel, der sofort nachgab und geräuschlos nach hinten schwang. Marei und Conny guckten. Büsche, Blumen und kein Mensch. Sollten sie es wagen? Mit Conny an ihrer Seite hatte Marei eigentlich vor nichts Angst, aber sie hatte schon oft Schelte bezogen, wenn sie in fremde Gärten ging. War das hier überhaupt ein Garten? Viel zu groß, und nirgends ein Haus zu sehen. Aber da hinten, die bunten Blüten, die musste sie einfach von nahem betrachten. Solche Blumen hatte sie noch nie gesehen. Blau und gelb, rot und weiß, richtig schön bunt, und ziemlich groß, fand sie. Zwischendrin auch schwarze. Gab es schwarze Blumen?

Marei hatte sich in Bewegung gesetzt, fast ohne es selbst zu merken. Conny blieb schwanzwedelnd an ihrer Seite. Die seltsamen Blumen waren sehr weit hinten in diesem Garten - oder was immer das hier war. Jedenfalls gingen und gingen die beiden, ohne den Blumen recht näher zu kommen. Einmal schaute Marei sich um und sah das Tor schon gar nicht mehr. Sie erschrak ein bisschen, aber dann dachte sie, mit Conny finde ich heim, immer.

Plötzlich versperrten lange, dornige Äste ihr den Weg. Vorsichtig bog sie sie auseinander, was gar nicht so einfach war. Als die Lücke groß genug war, sprang Conny bellend hindurch, worauf Marei natürlich folgen musste. Erstaunt blieb sie stehen. Eine Lichtung, bunter Rasen, ebenso bunte Büsche und Blumen ringsum.

Bunter Rasen?

Sie kniete sich ins Gras. Da lag …

"Conny! Mein Söckchen! Das, das seit Monaten verschwunden ist!"

Sie hob ein Kindersöckchen hoch, von dem ihr das Gesicht der Micky Maus entgegenlachte.

"Ach nein, das ist mir ja viel zu klein. Aber genau so eines hatte ich doch! Das andere hängt noch über meinem Bett, weil ich Micky so gern habe."

Marei drehte sich im Kreis. Da lagen Socken in allen Größen und Farben. Aber alles Einzelsocken.

"Conny, schau dir das an! Conny?"

Conny grub und stöberte unter einem Busch. Als Marei zu ihm hinüberlief, sah sie, dass auch die bunten Blüten in diesem und den übrigen Büschen Socken waren, vorzugsweise Kindersocken, geringelt, mit Figuren oder Herzen darauf, aber auch ein paar größere in unauffälligeren Farben. Aha, das also waren die schwarzen Blüten, die sie gesehen hatte.

"Wie kommen die alle hierher? Was meinst du?"

"Das sind die armen Socken, die ihr Geschwisterchen verloren haben."

Marei fuhr erschrocken herum. Wer hatte da gesprochen?

In einem Busch nicht weit weg sah sie ein Augenpaar blinzeln. Vorsichtig trat sie näher.

"Wer bist du?", flüsterte sie.

"Ich bin der gute Geist der verlorenen Socken. Und davon gibt es so viele, so viele! Hier siehst du sie alle. Hier geht es ihnen gut."

"Aber wie kommen die hierher? Und wo sind wir eigentlich?"

"Dies ist das Paradies der verlorenen Socken. Und wie sie herkommen? Nun, in der Nacht sind meine Elfen unterwegs, um sie aufzusammeln. Die hören die Socken rufen."

"Rufen?"

"Natürlich. Wenn eine Socke ihr Geschwisterchen verloren hat, ruft sie danach. Menschen verstehen das nicht. Oder hast du je von einem Menschen gehört, der Sockensprache spricht?"

"N-nein. Gibt es wirklich Sockensprache?"

"Was denkst denn du? Alles hat seine Sprache."

Marei schaute angestrengt in den Busch, aber mehr als diese Augen konnte sie nicht erkennen.

"Kannst du mal da herauskommen?"

Marei hörte ein heiseres Lachen.

"Warum?"

"Weil … na ja, wie siehst du denn aus?"

"Was denkst denn du?"

Wieder dieses Lachen. Marei überlegte.

"Kannst du …. Meine Mama schimpft immer, wenn ich eine Socke verliere. Kannst du mir eine von meinen verlorenen … na ja, zeigen? Dass ich sie mit heim nehme?"

"Was denkst denn du? Klar kann ich. Was gibst du mir dafür?"

"Ähm … ist es nicht genug, wenn eine Socke ihr Geschwisterchen wiederfindet?"

"Für die Socken schon. Aber was habe ich davon?"

Marei grübelte, aber es fiel ihr nichts Gutes ein. Schließlich sagte sie nur: "Ach bitte. Für meine Mama. Und für die Socken. Am liebsten die mit Micky Maus."

Die Augen verschwanden. Die Stimme sagte leise: "Dreh dich doch mal um …"

Marei drehte sich um, so schnell, dass sie stolperte und hinfiel. Als sie sich aufrappelte, spürte sie Connys warmen Atem an ihrem Ohr. Er hielt ihr etwas hin. Die Micky-Maus-Socke.

"Conny!", schrie Marei, griff nach der Socke und tanzte vergnügt im Kreis herum. "Ach, wird Mama sich freuen. Jetzt müssen wir nur noch heimfinden. Conny? Weißt du den Weg?"

Noch einmal hörte Marei die Stimme, jetzt noch leiser, nur noch gewispert: "Immer geradeaus …"

Marei schaute stirnrunzelnd umher. Conny dagegen war schon losgesprungen, wie immer fröhlich wedelnd. Achselzuckend rannte Marei hinter ihm her. Durch Büsche, an Blumen vorbei, unzählige Socken ringsumher. Dann wurden die Büsche dichter und dunkler. Keine Socken mehr zu sehen. Marei musste sich ein paar Mal bücken, kaum kam sie Conny hinterher. Plötzlich war da ein breiterer Weg, ein Zaun, ein Pförtchen, das offen stand. Conny war schon hindurch gerannt, bellte und schaute nicht zurück.

"Warte, Conny, so schnell kann ich nicht!"

Marei lief, rannte, stolperte, schaute nicht rechts noch links, lauschte nur auf Connys Bellen. Plötzlich stand sie an der kleinen Wiese, auf der sie oft spielte, und jetzt wusste sie den Weg nach Hause wieder. Conny wartete schon auf sie. Den Rest des Weges liefen sie Seite an Seite.

Zu Hause angekommen, schrie Marei: "Mama, Mama, schau, was ich hier habe!"

Die Mutter tauchte mit erschrockenem Gesicht aus dem Garten auf. "Kind, was ist passiert? Du warst sehr lange weg!"

"Schau, was ich hier habe!" Triumphierend hielt Marei ihre Micky Maus in die Höhe. "Ich hab die verlorene Socke wieder. Und da sind ganz viele verlorene Socken! Und …"

"Das glaub ich dir aufs Wort", unterbrach die Mutter sie und wies auf Mareis Füße. "Wie hast du denn das wieder hingekriegt?"

Marei verstummte und schaute auf ihre Füße in den Sandalen. Der linke mit der grünen Socke, die sie heute früh angezogen hatte, aus dem vorletzten kompletten Paar, der rechte - nackt.



Brigitte Hutt 2023

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