Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Eheringe

Kein Verbrechen

"Magst du noch etwas Obst?"

Er schüttelte müde den Kopf und schloss die Augen. Sie lächelte und strich ihm über die Wange.

"Ruh dich nur aus. Das wird schon wieder."

Sie ging in die Küche, ein Liedchen summend, und räumte die Reste des Mittagsmahls auf. Es war so befriedigend, ihn zu umsorgen. Er war kein anstrengender Patient, er war dankbar, und er war sogar zärtlichkeitsbedürftig, eine Eigenschaft, die sie in den gut 40 Jahren ihrer Ehe oft vermisst hatte.

Sie bereitete sich einen Kräutertee zu und trank ihn in kleinen Schlucken. Dann ging sie erneut ins Schlafzimmer, um nach ihrem Mann zu schauen.

Er war wach und schaute sie mit fiebrig glänzenden Augen an. "Ich habe so Durst."

"Gleich, mein Lieber, ich bringe dir Tee."

Sie eilte zurück in die Küche, füllte eine frische Tasse mit Tee und gab ein wenig Zucker hinein, Sorgfältig rührte sie um und brachte die Tasse an das Bett ihres Mannes.

"Schaffst du es allein?", fragte sie behutsam. Er streckte eine Hand aus, die deutlich zitterte. Sie schüttelte den Kopf, stützte seinen Rücken und flößte ihm vom Tee ein. Als er genug hatte, ließ er den Kopf zurücksinken.

"Morgen wird das Fieber schon wieder abgeklungen sein", meinte sie tröstend. "Dann geht es dir wieder besser."

"Hoffentlich", antwortete er mit rauer Stimme.

"Sicher", antwortete sie, "erinnere dich, das war beim letzten Mal auch so. Nur zwei Tage Fieber. Und heute ist der zweite."

Sie zog die Vorhänge zu und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, was er mit einem Lächeln quittierte.

"Was täte ich ohne dich", murmelte er. Sie nickte und ließ ihn allein.

Letzte Woche war er noch fit gewesen, so fit, wie es seine mehr als 70 Jahre zuließen. Dann pflegte er stets vielerlei Aktivitäten, in der Nachbarschaft, im Gemeinderat, in der Kleingartenanlage, mit den Kartenbrüdern - sogar eine Runde ehemaliger Kollegen gab es, die er begründet hatte und monatlich einberief.

Abteilungsleiter war er mit Leib und Seele gewesen, organisieren lag ihm im Blut. Das musst du verstehen, hatte er oft gesagt, wenn sie sich beklagt hatte, wie wenig Zeit er für die Familie hatte, dir und den Kindern geht es doch gut, aber damit das so ist, muss ich mein Bestes geben in der Firma.

Als er dann in den Ruhestand versetzt wurde, hatte sie auf ein spätes Glück zu zweit gehofft; die Kinder lebten ja inzwischen ihr eigenes Leben. Aber er hatte das Organisieren nicht lassen können, und so war er weiterhin beständig unterwegs oder am Telefonieren oder Planen oder - sie wusste es oft selbst nicht.

Dann war er krank geworden, ein Infekt, der ihn für mehr als zwei Wochen ans Bett fesselte. Sie hatte ihn gepflegt, besorgt um seine Gesundheit, aber auch glücklich, ihn daheim zu haben. Dabei hatte sie erstmals erlebt, wie dankbar, wie lieb, wie anerkennend er sich ihr gegenüber verhielt. Wenn das alles ist, hatte sie gedacht, wenn er krank sein muss, um zu erkennen, dass er eine Frau hatte, die ihn liebte?

Aber kaum gesund, hatte er sein unstetes Leben wieder aufgenommen, ein Leben, in dem sie nur eine bescheidene Rolle am Rande spielte. Wenn das alles ist, hatte sie gedacht, wenn er krank sein muss? Und dann hatte sie ihm wieder diesen aromatischen Kräutertee mit Eisenkraut und Zitronenmelisse gekocht, den er so mochte, den er während der Krankheit so gern getrunken hatte, und hatte erstmalig etwas von den kleinen weißen Kristallen aus der alten Zuckerdose hinzugefügt, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Einen Tag später hatte er Fieber und Kopfschmerzen bekommen, und sie hatte ihn gepflegt, hingebungsvoll und nimmermüde. Das tat sie nun etwa alle zwei Monate. Und sie waren beieinander, erstmals beieinander. Liebe ist kein Verbrechen.



© Brigitte Hutt September 2019

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