Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Das Dorf

Was macht ein - klassisches - Dorf aus, eines, das noch eine gewisse Infrastruktur hat und nicht nur zum Schlafen da ist? Nun, es hat seine Rollen, und es muss genügend viele Einwohner geben, um die zu besetzen. Jedes Dorf hat seine Hexe, seine Heilige, seine Hure, seinen Herrscher und seinen Hirnlosen, auch Narren genannt. Das Geschlecht kann natürlich variieren, ist aber in der Regel gerade so, außer beim Herrscher, das ist oft genug eine Herrscherin. Auch können einige Rollen in einer Person zusammenfallen, Hexe und Hure zum Beispiel, oder Narr und Heiliger. Alles in allem ist es aber so, dass diese Rollen vertreten sind. Dann müssen noch einige andere Einwohner übrigbleiben, sozusagen das Volk.

Nehmen wir einmal Kleinkittelsdorf. Da trug sich eines Tages die folgende Geschichte zu.

Dienstagnachmittag traf sich, wie üblich, der Frauenkreis. Man tauschte Klatsch aus und nützliche Neuigkeiten. Eine davon war, dass im Nachbardorf Großeberberg eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet werden sollte. Die Zeitungen waren voll davon.

"Das wird eine Menge Widerstand geben", sagte Frau Bexenberg, "wie an anderen Orten auch."

"Aber man muss ja helfen", wandte Frau Eibisch ein.

"Tun wir das nicht genug?", fragte Frau Bexenberg ungeduldig. "Wir machen Aktion auf Aktion für die Flüchtlinge, sammeln Spenden über Spenden. Genug ist genug."

"Wann ist es genug?", fragte Frau Eibisch nachdenklich. "Ich meine, die Not dort draußen hat ja davon kein Ende."

"Na, dann verkaufen doch Sie Ihr Haus, verschenken das Geld und gehen in die Lager", sagte Frau Bexenberg hämisch.

"Ich bitte Sie!" Frau Eibisch war entrüstet. "Mein Haus ist jederzeit gastfreundlich, jederzeit. Wer sollte denn das machen, wenn ich es verkaufe?"

"Verkaufen Sie es an die Kurtz, die kann den Platz brauchen. Und Geld hat sie auch."

Frau Eibisch schüttelte verwirrt den Kopf. "Wofür braucht Frau Kurtz mein Haus?"

"Meine Damen, meine Damen", mischte Frau König sich ein. "Bitte, lassen Sie uns konstruktiv bleiben. Ich schlage vor, wir machen eine Aktion. Eine ganz besondere."

"Für die Unterkunft?"

"Oder gegen die Unterkunft?"

"Meine Damen, bitte. Also: Wir machen ein Empathiefest."

"Ein ... was?" Frau Garner setzte ihre Kaffeetasse ab und runzelte fragend die Stirn.

"Nun ja. Wie soll ich es erklären." Frau König schaute in die Ferne. "Am besten so: Wir machen ein Kostümfest, ein Mottofest, und das Motto ist ... Lagerleben. Oder noch konkreter: Flucht."

Alle schauten sie entgeistert an. Sie fuhr, getragen von ihren Ideen, begeistert fort: "Ja, ganz einfach. Jeder hat doch solche - nennen wir es - Fummel im Keller, Sachen, die man aus irgendeinem Grund nicht wegwerfen mag, aber auch nicht anziehen. Oft genug uralt, entweder schon zerfressen oder nach Mottenkugeln stinkend. Also ist alles schon da. Auf unserem Mottofest geht es nur darum, so abgerissen wie möglich zu erscheinen. Damit wir mal ganz empathisch fühlen, wie Flüchtlinge sich fühlen. Das wird ganz wunderbar, und wir bekommen sicher eine Notiz in der Presse darüber. Dann sind wir im Gespräch und nicht mehr die Großeberberger."

"Und was soll das Ganze?" Frau Garner schaute immer verwirrter.

"Nun ja. Ich finde, das ist ganz einfach. Wir solidarisieren uns! Mit den Ärmsten der Armen. Und ... es hat ja jede Familie mehr als ein solches Kleidungsstück, so dass die anderen, die ja auch automatisch die weniger abgerissenen sind, also die besseren, zu guter Letzt gespendet werden können. Den Insassen der Unterkunft in Großeberberg. Ich sage Ihnen, die werden uns nicht weiter behelligen."

"Aber ... ähm, das ist doch nicht fair. Das sieht doch so aus, als ob wir uns lustig machen", wandte Frau Eibisch ein.

"Keineswegs", erwiderte Frau König sehr bestimmt. "Das zeigt nur, dass wir uns Gedanken machen. Dass wir handeln, aus eigener Initiative, bevor wir darum gebeten werden. Besser können wir uns gar nicht verkaufen."

"Aber ... ich weiß nicht …"

Frau Eibisch suchte nach Argumenten, doch Frau König brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Wir machen es. Am ersten Samstag im übernächsten Monat. Ich bin sicher, der Pfarrer stellt uns den Saal zur Verfügung. Frau Eibisch, Sie können am besten mit ihm, fragen Sie ihn. Ich kann schließlich nicht alles selbst machen."

"Und die Kurtz kann ein abgetragenes Seidenhemdchen beitragen", sagte Frau Bexenberg grinsend.

"Was Frau Kurtz beiträgt, entscheidet sie selbst", entgegnete Frau König bestimmt, "falls sie überhaupt mitmacht."

"Aber ...", Frau Garner verstummte und nahm ein Plätzchen.

"Frau Garner", wandte sich Frau Bexenberg direkt an sie, "Sie können auch etwas tun. Etwas, das Ihnen sicher nicht zu schwer fällt. Sie haben doch diese ganze Bettwäsche, die bei ihnen immer im Garten trocknet. Die mit den Flecken und ausgefransten Säumen. Damit könnten Sie den Saal dekorieren!"

"Ich ... äh ...", Frau Garner lief rot an und verschluckte sich.

"Bitte", sagte Frau Eibisch sanft, "wir können doch dekorieren mit den Stoffresten von der Änderungsschneiderei."

"Ich fürchte, die werfen sie immer weg, wenn die Kunden sie nicht haben wollen", sagte Frau König nachdenklich.

"Bettwäsche müsste die Kurtz auch mehr als genug haben. Und abgenutzt mehr als genug."

"Bitte, Frau Bexenberg, bitte", sagte Frau Eibisch unglücklich. "Warum hacken Sie immer auf Frau Kurtz herum? Ich versteh das nicht."

"Nicht? Na, dann fragen Sie doch mal Ihren Herrn Gatten."

"Was? Was hat denn Friedhelm damit zu tun?"

"Meine Damen, meine Damen. Ich denke, jemand sollte Frau Kurtz zuerst einmal fragen, ob sie mitmacht."

"Mit Seidenhemdchen und Bettwäsche?"

"Bitte, Frau Bexenberg", Frau Eibisch wurde immer unruhiger, "ich werde sie fragen gehen, ja, das mache ich. Aber ... haben wir schon abgestimmt, ob wir das Fest, also dieses spezielle Fest, wirklich machen sollen?"

"Wir müssen nicht abstimmen", sagte Frau König mit fester Stimme. "Das ist das Gebot der Stunde. Wir machen das."

Sie nahm einen Block und einen Stift aus ihrer Tasche und fing an, eine ihrer üblichen Listen zu machen. Nach einer weiteren Stunde waren alle Damen, mit Aufträgen versehen, auf dem Heimweg, jede in ihre Richtung. Frau Eibisch war sehr unglücklich, dass sie sich den Auftrag an Frau Kurtz auch noch selbst herausgesucht hatte, denn die war so anders, so seltsam. Immer zurückhaltend, nahm so gut wie nie teil am Dorfleben, sagte nur Guten Tag und Auf Wiedersehen, wenn man sie im Dorfladen traf, wenn man sie überhaupt traf. Am besten brachte sie das Ganze jetzt gleich hinter sich. Sie bog entschlossen um die nächste Ecke und marschierte zu dem kleinen, vollständig mit Efeu überwachsenen Häuschen am Dorfende, in dem Frau Kurtz lebte. So ein hübsches Haus, dachte sie, und Frau Kurtz lebt doch allein. Wieso um alles in der Welt sollte sie ein größeres Haus brauchen? Nur kurz zögerte sie, dann drückte sie auf den Messingklingelknopf neben der rot lackierten Haustür.

Es dauerte eine Weile, und Frau Eibisch wollte schon wieder gehen, da wurde die Tür geöffnet.

"Ja?"

"Ach. Entschuldigen Sie, bitte. Ich ... also, der Frauenkreis ... hat beschlossen, also, Sie wissen sicher schon, dass Großeberberg seine Flüchtlingsunterkunft bekommt."

"Ja. Und?"

"Und, also der Frauenkreis, wir möchten jetzt was machen. Eine ... eine ganz neue Aktion. Neuartig, meine ich. Wir möchten ein Fest machen und dann unsere Sachen, also die, die wir nicht mehr brauchen, die möchten wir spenden."

Es war heraus. Sie holte tief Luft. Ihr Gegenüber runzelte fragend die Stirn. "Und?"

"Ja, es ... es ist die Frage, ob ... ob Sie mitmachen."

"Ob ich bei was mitmache? Ihr Fest mit, ähm, feiere oder mitspende?"

"Ähm ... beides."

Frau Kurtz schaute sie nachdenklich an. Dann nickte sie, sagte: "Moment", und schloss die Tür. Man hörte Gemurmel. Wenige Minuten später kam sie zurück und drückte Frau Eibisch ein paar Geldscheine in die Hand.

"Das muss genügen. Mehr kann ich gerade nicht entbehren."

"Ach ... nicht Geld, sondern ..." Aber die rote Tür war schon wieder geschlossen. Von drinnen hörte sie leise Stimmen, ein kurzes Auflachen, dann nichts mehr. Frau Kurtz hatte wohl Besuch, und sie hatte gestört.

Sie schaute unglücklich auf die Geldscheine. Was sollte sie jetzt machen? Offensichtlich hatte sie ihr Anliegen doch nicht so herübergebracht, wie es richtig gewesen wäre. Sie schob die Scheine wie einen Fächer auseinander, drehte sie hin und her. Plötzlich stutzte sie. Da hatte jemand etwas an den Rand gekritzelt, in Grün, so wie ihr Jonas zu Friedhelms Geburtstag. "Alles Gute für Papa", stand da. Stand da in Jonas' Schrift.

Frau Eibisch brauchte drei Minuten, um zu begreifen, dass das der Geldschein war, der bis gestern noch auf Friedhelms Geburtstagstisch gelegen hatte. Sie schaute auf, als sie erneut ein Lachen aus dem Haus hörte, ein ganz kleines, fast zärtliches Lachen. Ein vertrautes Lachen, auch wenn es lange her war, dass sie es gehört hatte. Da ging sie langsam, sehr langsam, nachdenklich, sehr nachdenklich, nach Hause.

Dort holte sie einen Koffer vom Speicher und füllte ihn mit Friedhelms Anzügen, nicht ohne vorher noch ein paar Risse einzuarbeiten. Da das bei den guten Stoffen mühsam war, holte sie stattdessen ihr Tintenfass, das mit der grünen Tinte, und goss sorgfältig einige Tropfen auf jedes Kleidungsstück. Als der Koffer voll war, packte sie ihn und schleppte ihn zum Haus von Frau König. Dort stellt sie ihn vor die Tür, so dass jeder, der oder die herauskam, unweigerlich darüber stolpern würde. Dann ging sie wieder nach Hause, vergewisserte sich, dass Friedhelm noch nicht wieder da war, und packte seine Hemden in die leichte Reisetasche. Sie nahm eine Packung Grillanzünder aus dem Schuppen und schüttete den Inhalt oben drauf. Danach warf sie ein paar nützliche Dinge wie Wäsche, Streichhölzer und die Geldscheine in ihre Umhängetasche. Die Reisetasche trug sie zum Haus von Frau Bexenberg, stellte sie in den Garten, öffnete sie und riss ein Streichholz an, das sie auf den Grillanzünder warf. Als die Flamme aufstieg, nickte sie, fasste die Umhängetasche fester und ging zum Bahnhof, wo sie knapp noch den 17:45-Zug erreichte.


© Brigitte Hutt, Juni 2018

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