Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Blumenfenster

Ein ganz normaler Nachmittag

Hausaufgaben sind wie Medizin. Man muss das schlucken, weil die Eltern sagen, es ist wichtig. Spaß macht es keinen, und manchmal ist es sogar richtig grässlich. Wie heute. In einer halben Stunde käme die Mutter von der Arbeit, da sollte er eigentlich fertig sein. Martin knabberte am Bleistift und wedelte mit dem Lineal durch die Luft. Dimensionen, Ordnung, Koordinaten, pfff. Das Klingeln an der Wohnungstür wirkte wie ein Pausensignal. Martin warf Stift und Lineal auf den Tisch und sauste in den Flur, riss die Tür auf.

"Einen wunderschönen guten Tag, der Herr! Darf ich eintreten? Danke, danke!"

Während Martin verblüfft und wie erstarrt an der Wohnungstür stehen blieb, tänzelte eine seltsame Gestalt an ihm vorbei und marschierte schnurstracks in die Küche.

"Äh - hören Sie, das dürfen Sie nicht!" Martin war aus der Erstarrung erwacht und lief der Gestalt hinterher. Der Mann - ein Mann schien es zu sein - stand mitten in der Küche, stützte eine Hand auf die Arbeitsfläche, wobei er die Finger so etwas wie einen Rhythmus trommeln ließ, und musterte die Küchenschränke.

"So, so. Na, da könnten wir ja auch einmal etwas putzen. Schau hier, diese Flecken, woher sind denn die?"

Er griff nach dem Teebeutel, den Martin in die Spüle geworfen hatte, und tupfte damit an die Schranktüren und auf die Arbeitsfläche. Martin schoss das Blut in den Kopf. Er griff nach dem Spülschwamm und rubbelte über die Spritzer, während er stammelte: "Hören Sie, aber - Sie können doch nicht einfach ...

Der Fremde ließ den Teebeutel fallen und öffnete den Kühlschrank. Dabei murmelte er: "M-Hm, M-Hm, ja, M-Hm ...

Auf Martins Gestammel schien er nicht zu hören. Der war inzwischen mit dem Rubbeln fertig und holte tief Luft, bevor er sich zu seinem unerwünschten Besucher umdrehte.

"Ich darf niemanden ... Er hielt inne, denn er fand sich allein in der Küche.

Den Spülschwamm krampfhaft festhaltend lief er den Flur entlang. Geräusche aus dem Wohnzimmer. Richtig, dort war der Fremde angelangt und schlenderte summend und murmelnd herum.

"Wer sind Sie? Was wollen Sie? Ich darf niemanden reinlassen!", rief Martin verzweifelt.

Der Besucher antwortete nicht, stieß nur ein kleines, meckerndes Lachen aus. Martin hatte Zeit, seine eigenartige Kleidung zu mustern. Diese karierte Hose war schon ein Hingucker, und die Jacke erst! Uralt offensichtlich. Nicht einmal der schlechtest gekleidete Lehrer in der Schule würde so etwas anziehen. Und die Haare standen dem Typen büschelweise zu Berge, wie frisch aus dem Bett gestiegen.

Nun griff der Mann auch noch nach Mutters Lieblingsvase, die mit halb verwelkten Tulpen auf dem Tisch stand.

"Sollten wir da nicht mal was tun?", fragte er und fing an, Tulpenblätter abzuzupfen und in die Luft zu werfen.

Martin ließ den Spülschwamm fallen, griff mit einem Hechtsprung nach der kostbaren Vase, trug sie im Laufschritt in die Küche, setzte sie trotz aller Eile vorsichtig in der Spüle ab, zog den Strauß heraus und beförderte ihn mit Schwung in den Biomülleimer. Dann rannte er zurück ins Wohnzimmer, wo der Besucher es sich inzwischen in Vaters Fernsehsessel bequem gemacht hatte, ein Bein über das andere geschlagen, ein Buch in der Hand.

"Mein Buch!", schrie Martin und sprang auf den Fremden zu. Der zog es knapp vor Martins Fingern weg und schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Seltsame Augenbrauen waren das, dachte Martin für einen kurzen Moment. Dann fragte der Mann: "Und was tut das Buch hier? Haben wir gelesen statt Hausaufgaben zu machen?"

Martin schluckte und suchte nach Worten. Der Fremde zog einen riesigen Buntstift aus einer seiner ausgebeulten Jackentaschen und fing an, in dem Buch herumzumalen.

"Nein", schrie Martin, "das ist doch ein Büchereibuch! Das dürfen Sie nicht!"

"Darf ich nicht? Darf ich doch!", sang der Mann, schaute auf, direkt in Martins Augen, und plötzlich schoss der Stift nach vorn und malte Martin einen Punkt auf die Stirn. Als dessen Hände zur Stirn flogen und darüber rieben, landete der Stift erneut in seinem Gesicht, diesmal mitten auf der Nase.

"Aaah!", machte Martin und wich drei Schritte zurück.

"Na, was sagst du nun? Ich darf alles, was ich will!"

"Sie dürfen hier gar nicht sein!" Martin schaute sich verzweifelt um, als ob eine rettende Idee in der Ecke wartete.

"Ich darf, ich darf, ich kann, ich bin." Der Mann sang wieder, äußerst vergnügt. Jetzt fing er auch noch an zu pfeifen, warf das Buch auf den Zeitungsständer zurück, stand auf und tänzelte zum Fenster. Hier fing er an, die Philodendronblätter mit seinem Buntstift zu bearbeiten.

Martin sprang ihn an und schrie: "Nein! Mamas Pflanzen!"

Der Besucher schüttelte ihn lässig ab und machte mit dem Geldbaum weiter. Jedes der fleischigen Blätter bekam schwungvoll einen Tupfen in die Mitte.

Martin stand mitten im Zimmer und schluchzte. Albtraum? Wirklichkeit? Was ging hier vor?

Der Fremde hatte wohl genug von den Pflanzen und verließ, immer vergnügt summend, das Wohnzimmer. Martin schreckte auf, schoss an ihm vorbei und stellte sich wie der Engel mit dem Flammenschwert vor das Elternschlafzimmer.

"Nein", keuchte er, "nein, hier nicht. Schluss. Raus."

Der Mann blieb vor ihm stehen, spitzte nachdenklich die Lippen und zog wieder die seltsamen Augenbrauen hoch. "Junger Mann", sagte er lächelnd, "solltest dich mal anschauen. Lustig siehst du aus! Waschen wäre vielleicht das Mittel der Wahl?"

Martins Hände fuhren über sein Gesicht und spürten die Tränen. Als der Fremde neckisch mit seinem Stift wedelte, erinnerte er sich an die Punkte, die er vermutlich noch immer auf Stirn und Nase hatte. Er ließ seinen Wächterplatz im Stich und sprintete ins Bad. Dort ließ er sich Wasser übers Gesicht laufen und betete, dass der Albtraum ein Ende nehmen solle.

"Was machst du denn hier?"

Mamas Stimme. Martin stellte das Wasser ab und fuhr hoch. Die Mutter lächelte und strich ihm über die Haare.

"Bist ja ganz nass! Was ist denn los?"

"Der … da … hast du ... Martin lief an der Mutter vorbei in den Flur, ins Wohnzimmer, in die Küche.

"Was ist nur los mit dir?" Die Mutter bremste ihn und hielt ihn an beiden Schultern fest. Seine Augen schossen hin und her, aber die Wohnung schien leer zu sein bis auf sie beide. Die Mutter schaute ihn aufmerksam fragend an. Martin schüttelte den Kopf, Worte fand er gerade keine.

"Hausaufgaben fertig?", fragte die Mutter freundlich. Er schüttelte noch einmal den Kopf.

"Na, dann los. Ich koche mal einen Tee, magst du auch einen?" Sie ging in die Küche. "Oh, du hast die Blumen weggeworfen, danke!"

Also war es doch kein Albtraum gewesen. Aber dann waren ja auch … Martin schoss ins Wohnzimmer, zum Fenster. Alle Pflanzen standen an ihrem Platz, die blasse Vorfrühlingssonne malte Tupfen auf die Blätter. Er hechtete zum Zeitungsständer und griff zitternd nach dem Buch, blätterte darin. Sauber. Der Spülschwamm lag einsam auf dem Teppich.

Martin hob ihn auf und drehte ihn in der Hand; sein Kopf fühlte sich leer an.

Die Mutter kam mit einer Tasse Tee ins Zimmer, schaute ihn besorgt an und sagte: "Du bist ja völlig durch den Wind, mein Junge. Gut, dass bald Faschingsferien sind,"

© Brigitte Hutt 27.02.2017

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