Brigitte Hutt – IT-Beraterin und Autorin

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Tod des Autors. Kein Kriminalroman

Tod des Autors. Kein Kriminalroman – Leseprobe ...

100fans; erscheint voraussichtlich 16.10.2017)

Von der nächtlichen Zugfahrt über die Alpen blieb ihr nichts im Gedächtnis. Geschlafen hatte sie kaum. Bilder aus der Vergangenheit hielten sie wach. Simon damals in Frankfurt, zuerst Freund und Berater, den sie ob seiner Weltgewandtheit und seiner Eloquenz bewunderte, dann Liebhaber, der ihre Gefühlswelt nur zu gründlich durcheinander wirbelte. Sie hatten sich einige Male abends getroffen, in unterschiedlichen Lokalen, hatten etwas getrunken, etwas gegessen, und Simon hatte schmunzelnd akzeptiert, dass sie in der Regel selbst zahlen wollte. Dann lud er sie ins Kino ein, in einen Film, der Maria tief berührte. Simon spürte das, zog sie in seine Arme - und dann waren sie, zumindest in Marias Augen, ein Liebespaar. Einige Monate ging sie wie auf Wolken, war "Simon" ihr erster und ihr letzter Gedanke eines jeden Tages. Dann eröffnete er ihr, auf charmante Weise, zu der ihr kein "Aber" einfiel, dass er nun Deutschland, ja sogar Europa verlassen müsse. Für lange Zeit. Für sein neues Projekt. Sein nächstes Buch.

Und dann, eines sonntags, war Simon wieder da.

Es war einer dieser letzten schönen Septembertage gewesen, an denen man mittags noch einmal die Sonne auf der Haut spüren kann, an denen die ganze Stadt draußen zu sein scheint. Maria war durch die Isarauen geradelt und streckte nun auf einer Bank die Beine von sich. Spürte die Wärme, freute sich zu leben. Merkte auf einmal, dass jemand sie beobachtete. Ein Mann stand ein paar Meter entfernt, trotz der Wärme in eine gefütterte Jacke gehüllt, Kragen hochgeschlagen, Hände in den Taschen. Simon. Oder besser: ein Schatten des Simons, den sie gekannt hatte. Die Haare dünn geworden, das Gesicht blass mit tiefen Furchen, ernst. War er es wirklich?

Er kam näher, blieb vor ihr stehen, streckte eine Hand aus, sagte leise: "Maria."

Er hatte so seltsam ausgesehen, so erschöpft, krank. Sie hatten ein paar Worte gewechselt, an die sie sich nie erinnern konnte. Fremd waren sie sich geworden, und schweigend saßen sie eine ganze Weile nebeneinander auf der sonnigen Parkbank, Simon in seine warme Jacke gehüllt.

"Was tust du in München?", fragte Maria schließlich.

"Dich suchen", war seine Antwort.

Er war längere Zeit krank gewesen, erfuhr sie dann, danach zur Kur, und München war die Stadt, in der er "in die Zivilisation zurückfinden" wollte.

Als der Zug in Venedig einfuhr, erwachte Maria aus unruhigem Dämmerschlaf. Max nahm ihrer beider Taschen und führte Maria in ein Café in Bahnhofsnähe. Er stürzte einen Espresso hinunter und ging danach telefonieren. Simon hatte Venedig geliebt, war oft dort gewesen. Sein erster Bucherfolg hatte in Venedig gespielt, ein historischer Roman, der die ‚Serenissima' in ihren Licht- und Schattenseiten zeigte. Der Bestseller, über den sie sich kennen gelernt hatten. Für seine weiteren Bücher hatte er Schauplätze in aller Welt gewählt, was Recherchereisen von Zentralamerika über den Mittleren Osten bis Zentralchina erfordert hatte. Aber nach Venedig war er immer wieder zurückgekehrt, aus Liebe zu dieser Stadt und ihrem Zauber, und er hatte Maria damit angesteckt.

Das war in den Jahren in München gewesen, in der Zeit, die in den Isarauen begonnen hatte, mit seinem Satz "Dich suchen". So verwirrt war sie ihn wiederzutreffen, ihn so verändert wiederzutreffen, dass sie ganz vergessen hatte, nach der Bedeutung dieses Satzes zu fragen. Warum hätte er sie suchen sollen? Und warum, wie, sie finden sollen? Er war berühmt, kannte überall Menschen, sie dagegen war eine unbedeutende Verlagsmitarbeiterin. Die Frage nach dem Warum war ihr allerdings erst viel später gekommen. Damals war sie nur von Mitleid erfüllt gewesen, weil er so krank aussah. Ein paar Tage lang hatte sie ihn bemuttert: kochte für ihn, traf ihn zu Spaziergängen, redete mit ihm über dieses und jenes. Wenn sie es genau überlegte, redete vor allem sie. Zwei Wochen blieb er in München, und in dem Maße, wie sein gealtertes Aussehen ihr vertraut wurde, wuchs der alte Zauber wieder, sah sie sein gelegentlich wieder aufblitzendes Lachen, hörte die Wärme in seiner Stimme. Bevor er abreiste, auch jetzt auf Recherchereise, zurück in seinen Alltag, wie er es ausdrückte, fragte er sie, ob er wiederkommen solle. So wie sie ihn angestrahlt hatte, war keine Antwort mehr nötig gewesen.

Max kam zurück ins Café, winkte dem Wirt, noch einmal Kaffee zu bringen, und ließ sich, sichtlich erleichtert, auf den Stuhl fallen.

"Alles soweit geregelt", sagte er.

Maria durchzuckte eine wilde Hoffnung - Max so entspannt, so - sollte alles doch ein Irrtum gewesen sein? Ein verrückter, entsetzlicher … Aber Max sprach schon weiter.

"Im Krankenhaus erwarten sie uns. Ich habe ein Wassertaxi bestellt. Für einen weiteren Kaffee reicht die Zeit aber noch. Magst du nichts essen?" Maria schüttelte stumm den Kopf und umklammerte die Tasse mit frischem Kaffee, die der Wirt vor sie hinstellte, um das erneute Zittern ihrer Hände zu verbergen. Wie konnte Max nur so locker sein? So nüchtern über - darüber reden? Sie trank den Kaffee in kleinen Schlucken, ließ Max bezahlen, folgte ihm zum Wassertaxi, ließ sich durch die Kanäle fahren, ohne etwas von der Stadt wahrzunehmen, folgte ihm über den noch fast leeren Campo bis zum Krankenhaus. Dort führte man sie in ein leicht abgedunkeltes Zimmer mit einem einzelnen Bett in der Mitte, darauf eine stille Gestalt.

Simon. Die Realität. Die Unvermeidlichkeit. Sie bemühte sich, die Beine zu straffen und die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Vorsichtig berührte sie die Hände des Liegenden, die man ihm vor der Brust gekreuzt hatte. Kalt, fremd fühlten sie sich an. Simon, der Wärme so gebraucht hatte, der so leicht gefroren hatte, lag hier so kalt, so allein.

Sie starrte auf sein blasses Gesicht hinunter, die geschlossenen Augen. Betete stumm, er möge sie doch anschauen. Von dem Gespräch zwischen Max und dem anderen Mann im Zimmer - ein Arzt? - bekam sie nicht viel mit, auch nicht, als der fremde Mann ins Deutsche wechselte. Als Max sie an der Schulter herumziehen wollte, fauchte sie ihn an: "Kann ich bitte einen Augenblick meine Ruhe haben?"

Die beiden Männer verließen das Zimmer, dann war alles still. Warum, Simon, fragte sie wortlos, warum? Was ist passiert?

Irgendwann öffnete sich die Tür wieder, und der fremde Mann trat herein. "Signora", sagte er sanft, "Signora, potrebbe cortesemente rispondere ad un paio di domande - äh, können Sie, äh, paar Fragen beantworten, bitte?"

Sie blickte erstaunt auf. "Aber ich weiß doch selbst nichts, ich war doch gar nicht hier", entgegnete sie und wunderte sich, dass ihre Stimme so normal klang.

"Ihr Mann war, ähm, gesund?", fragte der andere. Sein Deutsch war trotz Akzent gut verständlich.

"Ja, sicher. Bisschen erhöhter Blutdruck vielleicht. Sonst nichts", sie zögerte, "jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Er hat eigentlich nicht über seine Gesundheit gesprochen. Haben Sie denn keinen Grund gefunden, wieso …", sie konnte nicht weitersprechen.

"Ärzte 'aben bis'er nichts finden können", meinte er. "'atte Ihr Mann, äh, Feinde?"

"Feinde? Aber wieso das denn? Die Ärzte? Sind denn nicht Sie der Arzt?" Maria war verwirrt.

"Nein, Signora Ermane, vielleicht 'aben Sie nicht verstanden, vorhin? Ich bin von Polizei, Collani ist meine Name."

"Polizei? Hören Sie, allmählich verstehe ich gar nichts mehr. Was wollen Sie von mir? Und", sie wurde plötzlich lauter, "wenn Sie schon so gut Deutsch sprechen: ich heiße Hermann, Hermann, ja?"

Sie drehte sich zu Simons Körper um, erschrocken, als ob sie ihn gestört hätte, und brach in hilfloses Schluchzen aus. Der Mann führte sie zu einem Stuhl und hielt sanft ihre Hand, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

"Geht wieder, Signo - Frau 'Ermann?", fragte er mitleidig. Sie nickte und fragte ihrerseits: "Wo ist Max - äh, Herr Kreutzer?"

"Er telefoniert, wegen Sarg und Transport und so. Frau 'Ermann, bitte keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Machen Sie keine Sorgen, bitte. Wir müssen Formalia beachten, verstehen Sie bitte."

Warum fragen Sie dann nach Feinden? - wollte sie entgegnen, war aber zu erschöpft. Max kam wieder herein und streckte die Hand nach ihr aus.

"Komm, meine Liebe, komm, wir können hier nichts mehr tun. Schlafen wir ein paar Stunden, bevor wir zurückfahren."

"Zurückfahren? Und - Simon?", sie blickte noch einmal zu dem stillen Körper, der ihr so fremd und doch so vertraut war.

"Der Bestatter kümmert sich, Liebes", Max schob sie behutsam aus dem Raum, "wir gehen jetzt erst mal in Simons Hotel."

Maria biss die Zähne zusammen und ließ sich aus dem Krankenhaus führen. An der Pforte drückte ihr jemand einen großen Umschlag in die Hand, den sie verständnislos anstarrte. "Was ist das?"

"Seine Sachen", sagte Max, "was er bei sich hatte. Uhr, Ring, Schlüssel, Handy und so. Schau mal kurz rein, ob es vollständig ist." Er schob sie hinaus auf den Campo.

"Vollständig? Woher soll ich denn das wissen?" Maria blinzelte in die Sonne, geblendet nach dem abgedunkelten Zimmer und den gedämpft beleuchteten Gängen. Sie schaute abwechselnd Max und den Umschlag an. "Max, bitte -", sie streckte ihm den Umschlag hilflos entgegen.

Plötzlich rempelte jemand sie an, so dass sie Max in die Arme flog. Den Umschlag ließ sie erschrocken los. Max stieß sie zurück und rannte davon. Maria blieb zitternd stehen. Schritte hinter ihr: der Mann von der Polizei, Colloni oder Goldoni oder so, stand vor ihr.

"Ist passiert was? Signora?" Er schaute sie prüfend an. Sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte, suchte nach Worten. Da kam Max zurückgerannt, keuchend, mit wirrem Haar. "Taschendieb! Dieb! Er hat", er brach ab, um zu Atem zu kommen. "Die persönlichen Dinge, den Umschlag - warum hast du ihn denn nicht eingesteckt, zum Teufel?", fuhr er Maria plötzlich an. Ihr dämmerte allmählich, was geschehen war. "Jemand hat mich angerempelt und mir diesen Umschlag weggenommen", erklärte sie dem Polizeibeamten, "und Max ist ihm nach. Du hast doch noch gesagt, ich soll hineinschauen, Max, ich kann doch nichts dafür -", sie brach in hemmungsloses Schluchzen aus.

Feder und Schlüssel

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