Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Tanzschiff

Auf Jahr und Takt

Auf zum letzten Einsatz. Silvester, Tanzmusik auf dem Schiff, na prima. Da werden wieder die üblichen Verdächtigen sein im Publikum. Ich stecke mein rotes Hemd in die schwarze Hose und streiche mir etwas Gel in die lichter werdenden Haare. Man tut ja, was man kann, um so auszusehen, wie das Publikum es gern hat. Seufzend betrachte ich mein Konterfei im winzigen Frisierspiegel der winzigen Kabine, die das Schiff für die Musiker bereitgestellt hat. Tanzmusik für die Rentnerbande. Von der Rentnerband, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Mein Gesicht ähnelt durchaus einer Zeitung, nachdem sie ausgelesen ist. In jeder Beziehung. Faltig und uninteressant. Vorsichtig setze ich mein professionelles Lächeln auf - es hält. Es hält auch nach 30 Jahren noch, wie tröstlich.

Profimusiker zu sein ist ein hartes Brot. Wenn man das doch begriffe mit Anfang zwanzig. Sicher, alle hatten davor gewarnt, aber - wer glaubt schon Eltern, Lehrern, kurz: der älteren Generation, wenn er noch meint, die Welt in der Tasche zu haben.

Gerd hockt in der Ecke und prüft die Klänge, die seine E-Gitarre hervorbringt. Mein - natürlich ebenfalls "E" - Piano ist schon vor Ort installiert, neben der etwas primitiv anmutenden Tanzfläche zwischen Tischen und Buffet. Und Lissy richtet dortselbst gerade die Percussion her. Mehr braucht man nicht, um das Publikum hier glücklich zu machen.

Jahresende, da ist es schwer, nicht wehmütig zu werden. Oder depressiv. Ach, sch ...

Eigentlich ist es ein ganz gutes Jahr gewesen. Neben unzähligen und ungezählten Tanzmusikauftritten mit Gerd und Lissy, "Trio volante" genannt, hat es auch ein paar gute Wochen im Jazzclub gegeben, mit den "Masters of brass", wo ich mit Klarinette und Saxofon so richtig zeigen konnte, was ich drauf hab. Aber auch da wird das Publikum satt, träge, unverständig. So richtig gewürdigt werden unsere Stücke da auch nicht mehr, und ohne dass etwas zurückkommt, kann man einfach nicht auftreten, kann man nichts geben. So ist das nun einmal mit der Musik.

"Auftritt!" Christa, die Managerin dieses Silvesterevents, streckt den Kopf zur Tür herein, zwinkert uns vergnügt zu und ist wieder verschwunden. Auch sie hat schon ihr professionelles Gesicht aufgesetzt. Na gut, los geht's. Gerd und ich gehen die Treppe hinauf und betreten die Musikernische, wo Lissy wartet. Ich lasse meine Blicke umherschweifen. Freudige, erwartungsvolle Gesichter, aber mehr auf das Buffet oder die jeweilige Tischrunde gerichtet als auf uns. Bunte Kleider, von glitzernd bis geschmacklos, Anzüge und Jeans, alles eben. Was soll's. Der Auftritt wird wenigstens ganz gut bezahlt. Ich nicke Gerd und Lissy zu und starte mit einem sattsam bekannten 70-er-Jahre-Hit. Ein paar Blicke gehen wohlwollend zu uns. Natürlich tanzt noch keiner, alle warten erst einmal auf das Buffet. Um diese Zeit ist die Musik eher zum Aufwärmen.

Während wir unser Warm-up-Repertoire abspulen, schaue ich mir die Buffetschlange an. 50 plus, bis knapp unter 90, schätze ich, wie üblich bei solchen Veranstaltungen. Die große schlanke in dem dunkelgrünen Kleid ist eventuell jünger, oder sie hält sich einfach besser. Dasselbe gilt für die kleine blonde in knallrot. Die hätte allerdings auch was weniger Nuttiges tragen können, finde ich.

Nach der ersten Pause treten wir an mit "Rote Lippen sollst du küssen", und, wie erwartet, die ersten Paare trauen sich auf die Tanzfläche. Zum Schieber, anders kann man das ja nicht nennen. Na ja, das sehr alte Paar da drüben mit dem seligen Gesichtsausdruck hat wohl wirklich nicht mehr drauf. Ich will nicht darüber nachdenken, wie lange es noch dauert, bis ich in deren Alter bin. Und mit wem dann ich tanzen soll.

Allmählich füllt sich die Tanzfläche, und als wir die nächste Pause ankündigen, kommen auch schon die ersten mit Wünschen zu uns. Cha Cha Cha. Klar. Könnt ihr das denn überhaupt? Wir haben mindestens schon zwei Titel gespielt, wo der Takt locker gepasst hätte. Aber klar, es muss sich auch nach Kuba anhören. Walzer? Ja, sicher, machen wir auch noch. Wobei das auf diesem Tanzboden schon eine besondere Kunst ist, das kann ich euch flüstern. Tue ich aber nicht. Freundlich lächeln, nicken. Im Repertoire blättern. Vorsichtshalber die Tänze ansagen, damit die Wünschenden auch merken, dass wir etwas für sie tun.

Nächste Runde. Walzer in kleinen Altherrenkreiseln. Habe ich es mir doch gedacht. Hoppla, die zwei hier kurven aber ordentlich los. Grad, dass sie mein Keyboard stehen lassen. Fast schaffen sie die Runde um die Tanzfläche, aber nur fast. Haben jedenfalls noch Schwung drauf. Beim Foxtrott machen sie weiter, und auch da trauen sie sich ein paar Figuren. Apropos Figur, die Dame macht keine schlechte. Fließende nachtblaue Bluse und passende Hose, ist das Seide? Leicht angegraute Haare, na ja, hat wohl die 50 auch schon auf dem Buckel. Oder wenigstens die 45. Probieren wir doch mal die Chacha-Runde. Ansagen - und los. Die zwei bleiben, lachen übers ganze Gesicht und legen los. Nicht übel, gar nicht übel. Da kriegt man glatt Lust, noch ein paar Rhythmen auszuprobieren. Aber jetzt erst mal wieder eine Runde Zweivierteltakt, sonst maulen die Leutchen noch.

Pause. Hoppla, was will die Dame hier? Tango - das wird ja immer schöner! Wer kann denn hier Tango! Gerd wimmelt sie mit einem Witzchen ab. Es geht weiter. 60-er, 70-er, ein paar Hits aus den 80-ern und 90-ern, die wirklich in jedem Radio angekommen sein müssten. Wolfgang Petry geht immer. Und natürlich die Gegenwart: Atemlos durch die Nacht. Lissy singt wirklich nicht schlecht, und an ihr ist mehr dran als an der Fischer Leni.

Noch eine reichliche Stunde bis Mitternacht. Danach sind alle immer etwas gedämpfter, da ist es dann nicht mehr so wichtig, was man spielt. Kann auch was Ruhigeres sein. Hallo, da kommt ja meine nachtblaue Dame, und zwar direkt auf mich zu. Auch ein Wunsch gefällig?

"Wie wäre es mit etwas mehr Schwung?", fragt sie mich freundlich. "Samba? Jive? Eine Menge Leute hier haben das mal gelernt, haben nur zu wenig Gelegenheit, es mal wieder aufzufrischen!"

"Gute Frau", sage ich und bemühe mich um dieselbe Freundlichkeit, "eine Menge Leute hier haben zeitlebens nur Schieber getanzt, höchstens mal einen Schneewalzer auf Hochzeiten."

Sie lacht mich an. Oder aus? "Wer auf ein Tanzschiff geht, will tanzen", sagt sie, "wetten, dass ihr auch mit etwas gewagteren Rhythmen die Fläche voll kriegt? Oder - mitunter ist es auch ganz schön, wenn etwas mehr Platz ist."

Sie zwinkert und geht zu ihrem Tisch zurück. Verdammt gute Figur. Und irgendwie kommt sie mir bekannt vor.

"Bad moon rising", raune ich meinen Kollegen zu. Da hast du deinen Jive, denke ich.

Hoppla, die Tanzfläche ist voll. Na ja, die meisten machen auch hier ihre Foxtrottschrittchen, aber einige Paare versuchen dazwischen Rock'n'Roll oder Jive, sieht ganz gut aus. Sieht überhaupt gut aus, denn die Leute machen ganz vergnügte Gesichter.

Ich blättere in meinem Notenbuch und weise auf einen modernen Walzer, einen ziemlich schnellen. Die Kollegen runzeln die Stirn, aber dann stimme ich schon an. Verdammt, da geht die Post ab! Etliche Paare geben auf, aber ohne das übliche Maulen auf dem Gesicht, und von den bleibenden ziehen einige richtig gute Bahnen um die Fläche. Meine blaue Dame zwinkert mir im Vorbeitanzen wieder zu. An wen erinnert sie mich nur?

Um auch die anderen wieder auf die Tanzfläche zu holen, schließen wir einen sanften Viervierteltakt an. Klappt ganz gut. Was macht meine blaue Dame? Tanzt Rumba, und nicht schlecht! Und mit glücklichem Lächeln. Ihr Partner führt auch ziemlich gut, finde ich. Erinnert mich an meine Zeiten in der Tanzschule, wo ich nichts ausgelassen habe; die ersten Kurse mit Britta, die war zwar ganz schön sperrig, doch richtig gut, dann die Kurse mit Julchen, die war fantastisch gut zu führen. Ach ja, nach Musiker wäre mein zweitliebster Beruf Tänzer gewesen. Aber da hat man ja jenseits der 30 nur noch die Alternative des Tanzlehrers, und das wäre wirklich nicht meines gewesen.

In der nächsten Pause meint Gerd: "Überfordere das Publikum bloß nicht, wir brauchen diese Engagements!" Ja, ja, ist ja schon gut. Die Dame in Blau winkt mir zu, als sie zu ihrem Tisch zurückkehrt.

Da steht wieder die Tangowünscherin - auch sie in Blau, ist das Zufall? - und guckt mich traurig an. Ist ja gut, ist ja gut. Machen wir auch noch.

Noch eine Runde bis Mitternacht. Sie servieren schon die Sektflaschen. Jetzt. Ich sage mit - hoffentlich - verführerischer Stimmer einen Tango an, und wieder ist die Tanzfläche voll!

"Darf ich bitten zum Tango um Mitternacht" - passt zeitlich gut. Da ist sie, die Tangowünscherin.

Gut macht sie das, ihr Partner auch. Und meine blaue Dame? Etwa schon aufgegeben? Ha, da ist sie, spurtet sie, kommt wohl gerade von der Toilette. Schnappt sich ihren Partner, und los geht's. Na, bitte. Braves Mädchen. Dann kriegst du auch deine Samba. Ich sage sie an, und sie und ihr Partner sind voll dabei. Auch beim folgenden Jive, Quickstep, Walzer. Mit einer ganzen Menge anderer. Ich glaube fast, ich habe das Publikum unterschätzt.

Nun ist Zeit für die Mitternachtspause. Ich sage auch die an, und wir verlassen die Musikernische. Feuerwerk, Glockenläuten, Anstoßen, Küsschen, das ganze Programm. Vor allem auf dem Oberdeck. Mir ist das alles so was von egal; ich trinke ein Bier auf das neue Jahr, das genügt mir. Stoße mit dem Barkeeper an, den ich schon lange kenne. Versuche, die recht angetrunkenen Passagiere rechts und links von mir zu ignorieren.

Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Schon wieder Auftritt? Ich drehe mich um und sehe in blaue Augen, betont von der mitternachtsblauen Seide der Bluse.

"Kennst du mich wirklich nicht mehr?" Mir treten fast die Augen aus dem Kopf.

"Juliane Ebert, damals jedenfalls. Heute Hagenbuch."

Julchen. Mein Julchen, meine Tanzstundenpartnerin, vor mehr als wie vielen Jahren aus den Augen verloren? Auf Jahr und Tag werden es 35! Verd..., dann ist sie ja fast so alt wie ich, also schon ... nein, nicht rechnen.

"G-gut siehst du aus, ein-einfach umwerfend." Seit wann stottere ich?

Sie lacht. "Du hast dich auch ganz gut gehalten", meint sie freundlich und streicht ganz zart über meinen zugegebenermaßen nicht allzu sehr aus der Form gegangenen Bauch. Ich spüre, wie ich rot werde.

Da hüpft Christa vorbei, winkt mir zu. Ich nicke hastig, sage schnell: "Schön dich zu sehen, aber ich muss wieder!"

Julchen hält mich am Ärmel fest: "Leute in unserem Alter hatten ihre Tanzstunde, vergiss es nicht wieder!"

Ich nicke, eile zu meinen Kollegen und schlage ein anderes Kapitel im Notenbuch auf. Drücke ein paar Rhythmustasten am Keyboard. Das Bett im Kornfeld steht auf chachachazwodrei, die Nacht ist aa-tem-los in langkurzkurz. Gerd und Lissy schauen mich immer wieder ungläubig an, aber ich greife einfach in die Tasten.

© Brigitte Hutt, nach einer Silvesterschifffahrt 2016, die Wünsche geweckt hat

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