Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Childhood Spezial

Finchen strahlte. Sie war so stolz. Der Schulranzen, lila mit Silberstreifen, die tolle neue Jeans, und die Riesenschultüte. Das war ein Tag! Auch die Lehrerin war ganz in Ordnung, und jetzt, wieder daheim, konnte sie endlich die Schultüte öffnen.

Nussschokolade, lecker. Ein Dino-Lineal, mit beweglichen Augen, nett. Und da, da! Vorsichtig zog sie es heraus: ihr erstes eigenes Smartphone. Sie betrachtete es mit glänzenden Augen und wischte mit dem Zeigefinger über das Display. Aber es reagierte nicht.

"Mama, wie geht das denn an? Und sind Spiele drauf?" Finchen war aufgeregt. Die Mutter nahm ihr das Gerät aus der Hand und drückte ein Knöpfchen an der Seite.

"Schau hier, hier drücken, und dann so", jetzt fuhr die Mutter mit dem Finger über das Display, "drüberwischen, und schon, na?"

"Ist es an!" Finchen nahm es behutsam zurück und bewunderte das Hintergrundbild, das sie selbst auf einem Pony zeigte. "Und sind Spiele drauf?"

"Das ist das ultramoderne Childhood Spezial Smartphone, mit bruchsicherem Glas und kinderleichter Bedienung, ausgerüstet mit gigantischem Speicher, longlife Akku und Betriebssystem OS-C 2.0", sagte die Mutter feierlich, und es klang fast so, als hätte sie es gern für sich selbst gehabt. "Und schau, wenn du dieses Symbol antippst, dann wird meine eigene Nummer gewählt, und du kannst mit mir sprechen, wann immer du willst, toll, was? Und für jede gute Schulnote laden wir ein Spiel drauf, ist das nichts?"

"Jetzt sind noch keine drauf?", fragte Finchen enttäuscht, und die Mutter zeigte ihr, dass ein Spiel schon da war, mit bunten Bällen, die allerlei Hindernisse zu überwinden hatten. Besser als nichts, dachte Finchen und zog sich zum Spielen zurück.

In den nächsten Wochen spielte Finchen mit den bunten Bällen, rief ihre Mutter an, wenn die Schule aus war und sie in die Mittagsbetreuung ging, oder wenn sie mit einem anderen Kind zu dessen Zuhause ging. Denn Finchen fand rasch Freunde in ihrer Klasse, und sie alle lernten ebenso rasch, wie ihre gegenseitigen Telefonnummern zu wählen waren, denn mit den Ziffern von 0 bis 9 kannten sie sich aus, sie waren ja jetzt groß. Finchen wartete sehnsüchtig darauf, richtig lesen und schreiben zu können, all die Wörter, die in ihrem Kopf waren, in Buchstaben ausdrücken zu können, denn richtig cool war ein Smartphone ja erst, wenn man auch SMS schreiben und lesen konnte und solche Sachen. Also lernte sie fleißig und erhielt mit jedem Fleißkärtchen, jeder guten Note ein neues Spiel. Schule war klasse, fand Finchen.

So verging das erste Schulhalbjahr, es wurde Winter und wieder Frühling. Der Schulweg war zum Alltag geworden, und Finchen hatte die Mutter gebeten, nicht mehr anrufen zu müssen, wenn sie mit der Schule fertig war. Kein Problem, hatte die Mutter gemeint. Aber dann, so um Ostern herum, geschahen eigenartige Dinge.

"Finchen, du sollst doch vor dem Mittagessen kein Eis essen, das weißt du doch!"

"Finchen, du hast schon wieder diese klebrigen Bonbons gekauft, das tut deinen Zähnen nicht gut!"

"Finchen, ich möchte nicht, dass du mit Klaus Dirksen spielst, du weißt, wie seine Eltern uns damals das Auto kaputtgefahren haben."

Woher wusste Mama das alles? Mit Klaus hatte sie bei ihm daheim statt der Mittagsbetreuung gespielt, und weder Eis noch Bonbons hatten die elterliche Wohnung je erreicht. Als es dann noch eine Extra-Predigt gab, weil sie im Park die Enten mit ihren süßen Jungen besucht hatte, da war Finchen verzweifelt.

Am nächsten Tag saß sie in der Pause am Rand des Schulhofs und brütete vor sich hin.

"Keine Lust zum Spielen?", fragte eine freundliche Stimme. Finchen schaute auf. Herr Dahlke, der neue Lehrer, der eigentlich noch gar kein Lehrer war, sondern das noch lernte, setzte sich neben sie auf den Zaun.

"Nein. Keine Lust zu gar nix", knurrte Finchen.

"Und was ist los?", bohrte Herr Dahlke weiter.

"Meine Eltern spina... spino… spinonieren mir nach." Manche Wörter waren aber auch zu blöd, fand Finchen.

"Deine Eltern spionieren dir nach? Wie machen sie das denn?" Herr Dahlke wunderte sich.

"Keine Ahnung. Aber Mama weiß einfach alles. Wo ich war, mit wem ich gespielt habe, was ich gegessen habe. Und ich bin doch jetzt groß, ich muss doch auch mal was allein dürfen!"

Herr Dahlke überlegte. Dann sagte er: "Sag mal, hast du ein Smartphone?"

"Ja!", stolz zog sie es aus der Hosentasche und hielt es ihm hin.

"Ah, ein Childhood spezial", sagte Herr Dahlke anerkennend, "darf ich mal?"

Er wischte und tippte ein bisschen und sagte dann: "Alles klar, da ist die CSA aktiviert. Die ist Standard beim OS-C 2.0."

"Die was?" Finchen verstand nur Bahnhof.

"Die CSA, Child Security App. Damit wird alles, was dein Phone tut, in einer Cloud gespeichert, alle Gespräche, alle SMS, und auch die GPS-Ortung. Und deine Eltern gehen mit einem Password in die Cloud und können genau sehen, wo und was du so gemacht hast."

"Was? Wo? Mit Klaus spiele ich doch gar nicht mehr!"

Herr Dahlke lachte. "Cloud, nicht Klaus. Das ist so ein Datenspeicher, der nicht im eigenen Computer oder Telefon ist, sondern bei einem Provider gemietet wird und so weit weg ist wie die Wolken im Himmel. Cloud ist nämlich englisch und heißt Wolke. Und ein Datenspeicher ist …"

"Aber Herr Dahlke, ich bin doch nicht blöd. Ich weiß doch, was ein Datenspeicher ist!", jetzt war Finchen empört. "Und wie gehen meine Eltern in diese … Wolke?"

"Na, mit ihrem Smartphone oder PC, und mit deiner PIN."

"Meiner was?"

"Deiner PIN. Die Nummer, die du zum Einschalten brauchst."

"Aber ich brauche da keine Nummer. Ich muss nur drüberwischen."

"Na ja, man kann es auch komplett abschalten, dann braucht man die PIN, um es wieder einzuschalten. Aber das ist nicht so wichtig. So musst du dir auch keine Nummer merken."

Finchen fiel ihr Hauptproblem wieder ein. "Und was mache ich jetzt gegen das Spinonieren?"

Herr Dahlke gab ihr das Telefon zurück und überlegte. "Weißt du, das ist ja gar nicht böse gemeint. Deine Eltern machen sich nur Sorgen, dass dir was passieren könnte, und mit der CSA wissen sie halt immer, ob es dir gut geht, oder sie können dich auch finden, wenn du dich mal verläufst oder so."

"Ich verlaufe mich aber nicht", rief Finchen empört, "ich bin groß genug!"

Herr Dahlke lächelte. "Weißt du was, meine große Schwester gibt Informatikunterricht am Gymnasium, ich frage die mal danach, vielleicht hat sie einen Tipp, was hältst du davon?"

Finchen war ein bisschen getröstet. Wenigstens Herr Dahlke fand "Spinonieren" auch nicht so toll.

Am nächsten Tag tauchte Herr Dahlke in der Mittagsbetreuung auf, kam zu Finchen und stellte ihr eine junge Frau mit einem langen Pferdeschwanz vor. Finchen gab ihr artig die Hand.

"Das ist Alexa, meine Schwester. Sie hat eine Idee!"

Neben Finchen standen Sven, Julia und Lena. Die wollten natürlich sofort wissen, worum es denn ginge.

"Na ja, um das Spinonieren mit dem Telefon", versuchte Finchen die Sachlage zu erklären. "Also weil doch meine Eltern immer wissen, was ich tue und wo ich bin, weil das Telefon das dem Klaus - äh, der Cloud sagt und die sagt es meinen Eltern."

"Hach", schrie Sven, "genau wie bei meinen!" Und Julia und Lena nickten dazu.

Alexa Dahlke lachte. "Ja, der Childhood-Spezial-Hersteller hat da ein ganz schönes Geschäft gemacht", sagte sie, "aber die Mädels und Jungs aus meiner Informatik-AG üben sich gerade darin, Apps zu programmieren, und sie haben die DAP fertig. Und du - oder besser: ihr vier dürft jetzt mal den Feldversuch machen."

"Die was? Den was?" Alle vier riefen durcheinander.

Alexa bat mit erhobenen Händen um Ruhe. "Die haben die DAP fertig, die Defense Against Parents-App. Also eine normale Smartphone App. Die kann man zur CSA hinzufügen, dann fängt sie die Signale der CSA ab, und in der Cloud kommen nur noch ganz harmlose Daten an. Welche, das bestimmt ihr. Und Feldversuch heißt, auf euren Smartphones wird die DAP zum ersten Mal ganz richtig eingesetzt, und meine Schüler wollen damit testen, ob sie funktioniert. Sollen wir gleich loslegen?"

Die Kinder waren Feuer und Flamme, und Alexa Dahlke lud auf jedes der Telefone die DAP, fragte die Kinder, was ihr normaler Heimweg sei, wen sie so anriefen, wen sie besuchten und ähnliches. Dann tippte sie eine Menge Daten ein und sagte schließlich: "Fertig. Nun erfahren eure Eltern nur noch, was die DAP in die Cloud schickt. Sagt mir oder meinem Bruder Bescheid, wenn es Probleme gibt!"

Und weg waren Dahlkes. Die Eltern von Finchen, Sven, Julia und Lena waren für den Rest des Schuljahres begeistert, wie brav doch ihre Kinder waren. Keine Umwege auf dem Heimweg, kein Bummeln, keine unerlaubten Eisdielenbesuche. Und die Eisdielenbesitzer waren begeistert, wie regelmäßig die Kinder in diesem warmen Frühling auf dem Heimweg von Schule oder Hort bei ihnen einkehrten.

Gegen Ende des Schuljahres saßen im Gymnasium vier Jungen und vier Mädchen konzentriert vor ihrem PC und lasen aus ihrer Cloud die Ergebnisse des DAP-Feldversuches ab. Dort waren sowohl die echten CSA-Daten der Kinder als auch die von der DAP gefälschten ablesbar und vergleichbar.

"Toll, wir sind einfach toll", meinte Benjamin, "Frau Dahlke, können wir das nicht bei Jugend forscht einreichen?"

Alexa Dahlke dachte an die Kinder, deren Eltern nichts von der DAP wussten.

"Besser nicht", meinte sie, "manche Dinge behält man besser für sich."

© Brigitte Hutt 2014

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