Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Altarbild in der Markuskapelle in Gadheim (Würzburg)

"Advent heißt Ankunft"
oder: Flüchtlinge hat es immer schon gegeben

Ende der Siebziger habe ich "rübergemacht", wie das damals hieß. Ich war noch ziemlich jung, und es war nicht das rühmlichste Kapitel meines Lebens, eher eines, das sich lohnt totzuschweigen. Jedenfalls habe ich Glück gehabt: ich lebe. Aber hier anzukommen, in dem, was uns drüben als das Gelobte Land erschien (ohne dass wir uns klar gemacht hätten, woher der Begriff kommt), war nicht leicht. Damals gab es noch keinen Applaus, keine offenen Arme, eher ein "sieh zu, wie du klar kommst". Woher ich kam, hörte man schon an meiner Sprache, und die Menschen hier beeilten sich mir zu erklären, dass sie nichts zu verschenken hätten, dass es galt, sich alles zu erarbeiten. Meine Ausbildung war auch nicht ganz passend zu dem, was hier erwartet wurde, aber irgendwie ging es, und mit der Zeit hatte ich mein Auskommen.

Meine Eltern hatten es nicht leicht gehabt, denn sie waren Christen. Das war ein unerwünschter Verein, nicht passend zu sozialistischen Zielen. Meine Mutter hatte mich taufen lassen, und sie war es auch, die mich in den Grundzügen meiner Religion unterrichtete. Sie erzählte von den Evangelien, von den jährlich wiederkehrenden Feiern, die sich daraus ableiteten. Gott hat uns seinen Sohn geschickt, erzählte sie, das feiern wir Weihnachten. Und er ist für uns gestorben, das feiern wir Ostern. Irgendwann, ich war etwa 15, habe ich dann geantwortet: "Also stimmt es, dass Gott tot ist." Heute weiß ich, dass ich meine Mutter damit sehr verletzt habe. Jedenfalls hat sie es daraufhin eingestellt, mich religiös zu unterweisen, was mir ganz recht war.

In den ersten Jahren hier, als es mir kaum gelang, in meinem neuen Leben Fuß zu fassen, als jeder um mich herum jemanden zu haben schien, nur ich nicht, in diesen Jahren habe ich mich oft an Worte der Bibel erinnert. Es wunderte mich selbst, wieviel mir davon noch einfiel. Da war die Geschichte vom verlorenen Sohn - tröstlich für die, die zurückkönnen; ich wusste nicht einmal, ob meine Eltern dafür büßen mussten, dass ich geflohen war. Da war die Radikalität der Nachfolge - wer nicht seine Familie verlässt, kann Jesus nicht nachfolgen. Nun, genau das hatte ich getan, wenn auch aus anderen Gründen. Und mein Lohn? Wo war Jesus?

Als Mensch mit viel Zeit zum Nachdenken sagte ich mir, dass ich ihm vielleicht zeigen musste, dass ich alles verlassen hatte, dass ich vielleicht eine Chance hätte, es nur noch nicht wusste.

Also besuchte ich an einem grauen Dezembersonntag eine Kirche. Kerzen, Orgelbraus, Bänke ohne Ende, darin stehende, sitzende, kniende Menschen - allerdings erstaunlich wenige. Ich schaute mich um und setzte mich dann in eine Bank. Der Priester vorn - zumindest nahm ich an, er sei einer, trug ein altmodisch festliches Gewand. Er war umgeben von Kindern, die ganz ähnlich gekleidet waren, und denen die Sache Vergnügen zu machen schien. Erstaunlicherweise setzten sich gerade alle hin, auch der Priester, und stattdessen trat aus einer der vorderen Bänke ein Mann, ging nach vorn zu einem Lesepult und trug mit kräftiger Stimme etwas aus dem Buch vor, das da lag. Es war wohl eine Bibel, denn der Text kam mir vage bekannt vor und erinnerte mich an die Geschichten meiner Mutter. Es ging um Freude, Jubel, Wüste, Befreiung. Mit Befreiung konnte ich etwas anfangen, mit Wüste als Synonym für mein altes Leben auch, aber der Jubel wollte nicht aufkommen. Auch fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren.

Nach einer Weile standen alle auf und sangen Halleluja. Dann ging der Priester selbst zum Lesepult und las noch einmal einen Text über Wüste, über Gefängnis, und er nannte den Namen Johannes. An diese Gestalt erinnerte ich mich. Der hatte ziemlich mutig und anspruchslos in der Wüste gelebt und vom Kommen Gottes gesprochen. Und der Staat hatte ihn machen lassen, das hatte mich beeindruckt. Aber offensichtlich war es doch nicht so einfach gewesen, sonst wäre er ja nicht im Gefängnis gelandet. Ich war erstaunt, dass es Strafaktionen auf mutige Handlungen schon vor so langer Zeit gegeben hatte.

Der Priester brachte das Buch zu einem Extrapult, die Gemeinde setzte sich. Dann trat er erneut ans Mikrophon und sprach: "Der Prophet Jesaja, von dem wir in der ersten Lesung gehört haben, hat gesagt: Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht." Das Volk, das im Dunkel lebt. In dieser Umgebung, durch eine Verstärkeranlage hervorgehoben, schienen die Worte im Raum zu schweben, in meinen Kopf zu dringen. Das Volk, das im Dunkel lebt. Waren das nicht auch wir, drüben, gewesen? Hatten wir uns nicht sehnlichst das Licht gewünscht, das wir im verbotenen Nachbarland vermutet hatten? Hatten wir nicht regelrecht geglaubt, dass hier das Gelobte Land war? Lebten denn alle im Dunkel? Und - konnten alle glauben? Alle außer mir?

Wieder glitten meine Gedanken ab, und ich verglich die Trostlosigkeit meines früheren Lebens mit der aktuellen. Hoffnung, Erfüllung. Wüste, Befreiung. Wenn es doch so einfach wäre.

Als der Gottesdienst beendet war und ich die Kirche verließ, stand ich unversehens hinter dem Mann, der als erstes vorgelesen hatte. Mutig wie Johannes sprach ich ihn an. Was hatte ich schon zu verlieren?

"Entschuldigung, Sie haben diesen Text von, äh, Jesaja vorgelesen. Ich, äh …", verflixt, was wollte ich eigentlich genau?

"Ja?" Er hatte sich zu mir umgewandt und blieb abwartend stehen. Jetzt kam es darauf an.

"Ich, ach. Wissen Sie, es ist so - so - besonders, diese alten Worte zu hören, und man muss nicht einmal ein Priester sein, um sie vortragen zu können. Und mit dem Lautsprecher - die Worte schweben dann so, das ist einfach … schön", schloss ich etwas lahm. Ich hörte mich stottern und wusste immer noch nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Nur mit jemandem reden, ankommen, hier, das wollte ich.

"Jesaja hat den Advent vorweggenommen", sagte mein Gegenüber eifrig, "Jesaja verkündet die Ankunft von Gottes Sohn. Ja, Sie haben recht, das sind starke Worte." Er lachte kurz auf. "Noch nie hat mich jemand auf die Lesung angesprochen, und ich lese schon viele Jahre!"

"Müssen Sie - ich meine - was - haben Sie eine spezielle Ausbildung, um das tun zu können?"

Er schüttelte den Kopf. "So kann man das nicht sagen. Jedes Mitglied der Gemeinde kann damit beauftragt werden. Man besucht einen Kurs, das kostet nichts, und dann muss man natürlich die Zeit aufwenden, sonntags, und das wollen immer weniger. Hätten Sie denn Lust dazu?"

Lust? Ich nickte, wortlos, sprachlos.

"Gehören Sie zur Gemeinde?"

"Ich - weiß nicht, ich wohne da drüben in der Pestalozzistraße", sagte ich vorsichtig und setzte hinzu: "aber noch nicht lange."

"Sie sind", er suchte sichtlich nach Worten, "nicht von hier, oder?"

Ich schüttelte resigniert den Kopf. "Hört man, nicht wahr?"

Er lachte wieder, aber freundlich. "Allerdings. Aber - sind Sie getauft?"

"Bin ich!" Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh darüber.

"Na, dann kommen Sie doch mal mit." Er zog mich um die Kirche herum, wo der Priester, jetzt in normaler Kleidung, mit einigen Leuten im Gespräch stand.

"Herr Pfarrer", rief er, "wir haben hier einen Anwärter auf den Lektorendienst, was sagen Sie dazu!"

Tja, das ist nun alles viele Jahre her. Ich bin angekommen, damals. Es ist nicht alles Gold in dieser Gemeinde, aber wo ist es das schon? Ich lese vor, etwa einmal im Monat, am liebsten immer noch im Advent, wenn Jesaja dran ist. Aber es gibt, weiß ich inzwischen, eine Vielzahl von starken Texten in der Bibel, wenn auch ein paar, bei denen ich schlucken muss. Manchmal reden wir Lektoren über die Texte, die wir nicht mögen, und auch das macht etwas mit mir.

Ob ich an Gott glaube? Ich weiß es nicht. Niemand hat mich danach gefragt, alle haben es vorausgesetzt, haben quasi an mich geglaubt. Ob ich an Gott glaube? Ich glaube jedenfalls an die Kraft von Worten. Und irgendwo in der Bibel - ich muss mir doch mal eine kaufen - steht doch "das Wort war Gott".

© Brigitte Hutt Dezember 2015

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